Die sportwissenschaftliche Unterstützung der EHSM hinter den Rad-Olympia-Medaillen
In der ersten Olympia-Woche gewannen die Schweizer Mountainbikerinnen in Tokio vier Medaillen: Gold für Jolanda Neff, Silber für Sina Frei und Bronze für Linda Indergand und dazu die Silber-Medaille von Mathias Flückiger. Und zum Abschluss der Mountainbike- und Strassenwettbewerbe hat Marlen Reusser im Einzel-Zeitfahren noch Silber geholt. Wir haben uns mit den BASPO-Mitarbeitenden Nina Zenger und Beat Müller in einem Telefongespräch unterhalten, wie «Magglingen», die Eidgenössische Hochschule für Sport EHSM und das BASPO die Athletinnen und Athleten von Swiss Cycling bei den Vorbereitungen unterstützt haben.
Die Olympia-Mountainbike-Strecke in Tokio war sehr speziell, ihr habt ja unter anderem auch ein 3D-Modell davon erstellt?
Beat Müller (Wissenschaftlicher Mitarbeiter Sportphysiologie Ausdauer EHSM und Leistungsport-Chef Swiss Cycling): Ja, diese Strecke hat eine sehr spezielle Charakteristik, weil sie künstlich angelegt wurde und somit nicht mit bekannten Strecken im Weltcup vergleichbar ist. Das Belastungsmuster ist geprägt durch mehrere kurze, steile Anstiege, gefolgt von technischen Abfahrten. Des Weiteren wird die Dynamik durch die vielen Richtungswechsel verschärft. Aus dieser Analyse haben wir ein intermittierendes Training abgeleitet, welches sich aus 14 Wiederholungen mit je 30 Sekunden Belastung, gefolgt von 15 Sekunden Erholung zusammensetzt. Und das Ganze wird dreimal wiederholt.
Bei den Leistungstests im Mai hast du gesagt, dass Mathias Flückiger so gut war, wie noch nie, was ist da der Hintergrund?
Müller: Die Leistungsentwicklung des früheren U23 Weltmeisters wurde über mehrere Jahre in der Leistungsdiagnostik dokumentiert. Durch die prozessbegleitende Diagnostik konnte das Training stetig optimiert werden, was schliesslich zu persönlichen Bestwerten in diesem Frühjahr geführt hat. Und er hat auch mit dem Magglinger Krafttrainings-Experten Adrian Rothenbühler (Anmerkung der Red. auch Trainer von Mujinga Kambundji und Trainer des Jahres 2019) gearbeitet. So konnte «Math», der als Super-Techniker bekannt ist, seine Physis insgesamt steigern.
Wie weit wurde das Hitzelabor in Grenchen, bei dem euer Kollege Thomas Steiner den Lead hatte, auch für die Radsportler eingesetzt?
Nina Zenger (Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sportphysiologie Ausdauer EHSM): Für alle Disziplinen wurde in Zusammenarbeit mit Swiss Cycling ein Akklimatisations-Approach für die extremen Hitze- und Feuchtigkeits-Bedingungen im Grossraum Tokio ausgearbeitet. So haben beispielsweise die Bahnfahrer zuerst ein Trainingslager auf Mallorca absolviert, um sich an die Hitze zu gewöhnen. Nach der Rückkehr und vor der Abreise nach Tokio haben die fünf Athleten zweimal pro Woche eine sogenannte «Erhaltungs-Einheit» auf der Trainingsrolle im Hitzelabor bei «Tokio-Bedingungen» absolviert.
Und wie war es bei Marlen Reusser und den drei Medaillengewinnerinnen im Mountainbike, bei Olympiasiegerin Jolanda Neff, Sina Frei und Linda Indergand? Wie verlief da die Akklimatisierung?
Müller: Die vier Frauen gingen zusammen mit Swiss-Cycling-Nationaltrainer Edi Telser nach Alicante, ans Mittelmeer ins Trainingslager, um sich dort an die klimatischen Bedingungen zu gewöhnen. Zusätzlich wurde das Trainingslager genutzt, um mit dem Spanier Oscar Saiz nochmals gezielt an der Fahrtechnik zu arbeiten. Auf diese Weise konnten sie die physischen und technischen Vorbereitungen mit der Hitzeakklimatisation kombinieren. Nicht zuletzt wegen den extremen Bedingungen, mit denen die Athletinnen in Tokio konfrontiert wurden, hat sich dieser multifaktorielle Approach bezahlt gemacht.
Während Neff, Frei und Indergand in der Spitzensportförderung der Armee sind, wurde Marlen Reusser im Rahmen der Zusammenarbeit mit Swiss Cycling unterstützt. Wie hat diese Unterstützung ausgesehen?
Müller: In den vergangen Jahren hat Marlen bereits mehrere Höhentrainingslager als Vorbereitung für Grossanlässe absolviert, die durch unsere Kollegin Katja Kellenberger evaluiert worden sind. Ausgehend von diesen Erfahrungen hat man als individuelle Lösung beschlossen, für Marlen Höhe- und Hitzetraining zu kombinieren. Deshalb hat die finale Vorbereitung für Marlen bereits vor Alicante mit einem Höhentrainingslager auf dem Bernina-Pass begonnen. Damit Marlen in Tokio ihren Formhöhepunkt erreichen konnte, war bei der Kombination der beiden Massnahmen mit «Best-Practice» Anspruch das Timing besonders wichtig.
Aber ihr habt ja noch mehr gemacht, zum Beispiel im Windkanal in Mailand?
Zenger: Wir haben Marlen in den Windkanal nach Mailand begleitet, weil die Aerodynamik gerade bei den hohen Geschwindigkeiten im Zeitfahren ein Erfolgsfaktor ist. Der Windkanal hat den Vorteil, dass man in relativ kurzer Zeit viele verschiedene Szenarien miteinander vergleichen kann, wie zum Beispiel die Position der Athletin, Helme, Laufräder oder auch Skinsuits und Überschuhe. Und dann hat der Windkanal im Vergleich mit den Aero-Tests im Velodrome noch ein weiteres Plus…
Was ist denn das genau?
Zenger: Im Windkanal ist der Athlet auf einer drehbaren Plattform positioniert, wodurch der Anströmwinkel des Windes verändert werden kann. Kenntnisse über die Performance von Material bei unterschiedlichen Anströmungswinkel helfen bei der Diskussion von verschiedenen Szenarien. All diese Optimierungsmassnahmen führten schliesslich dazu, dass der Luftwiderstand reduziert werden konnte und somit bei gegebener Leistung eine höhere Geschwindigkeit resultiert.
Und was wurde sonst noch gemacht?
Zenger: Die Zeitfahrstrecke in Tokio hat eine heimtückische Eigenheit, sie beginnt mit einer Abfahrt. Das kann einen Pacing-Fehler provozieren, da es energiemässig unglaublich «teuer» ist bei den ohnehin schon hohen Geschwindigkeiten in der Abfahrt noch schneller zu fahren. Ausgehend vom Streckenprofil, den Kenntnissen über den Luftwiderstand und den Leistungswerten aus der Diagnostik konnte eine zeitoptimierte Pacing-Strategie berechnet werden. Dieses Schema war für Marlen eine Orientierungshilfe, um die Zeitfahrstrecke optimal einzuteilen.
Müller: Marlen hat das Rennen perfekt eingeteilt, denn im Vergleich zu anderen Fahrerinnen und Fahrern ist sie in den Steigungen und im finalen Streckenabschnitt nicht ‘eingegangen’.
Besten Dank für das Gespräch!
Interview: Kurt Henauer
Bundesamt für Sport BASPO
Hauptstrasse 247
2532 Magglingen










